Die Katastrophe ist eingetreten

Die EU ist auseinandergebrochen, der Euro existiert nicht mehr. Das erst vor wenigen Jahren eingeführte Grundeinkommen – wertlos. Die Privilegierten leben auf künstlichen Inseln im Mittelmeer, der Nord- und der Ostsee, die von einer Privatfirma verwaltet werden und keiner staatlichen Kontrolle mehr unterliegen. Auf dem Kontinent herrscht das Elend und eine terroristische Gruppe „Let them eat money“ entführt diejenigen, die sie für die Verantwortlichen der Krise hält. Gleichzeitig läuft ein Untersuchungsverfahren, das herausfinden will, wie es soweit kommen konnte, und das von einer Maschine geführt wird.

Andres Veiel entführt uns in seinem neuen Stück „Let them eat money“ in diese Dystrophie. Das Stück ist das Ergebnis eines langen Prozesses, mit mehreren Konferenzen, Workshops und Diskussionen mit Bankern, Wissenschaftlern, Experten und über 200 mitdiskutierenden Zuschauern. Wohl selten hat sich ein Künstler derart intensiv mit der Materie Wirtschaft, Politik, Digitalisierung und Staat auseinandergesetzt. Das dort gewonnene Wissen haben er und seine Mitstreiter verdichtet und in Facetten aufgeschlagen mit dem Ziel, es mit den Mitteln der Kunst zu verarbeiten. Das führt zu einem intensiven Theaterabend mit enorm vielen Themen und Gedankenansätzen.

Aufmerksamkeit gefordert

Das macht den Abend für die Zuschauer herausfordernd. Die Geschichte ist komplex, nicht stringent, voller überraschender Wendungen und Aspekte. Auch die Figuren sind nicht einseitig. Irgendwie wollte jeder das Gute, doch in ihrem Zusammenwirken kommt es zur Katastrophe.

Das Theater hat so seine eigenen Regeln. Es braucht eine Krise, Protagonisten, die sich daran abarbeiten und tragisch oder komisch daran scheitern. Es braucht Sinnlichkeit, Agieren und Persönlichkeiten, deren Leiden den Zuschauer mitnimmt, ihn zu einem Perspektivwechsel auffordert und neue Einsichten ermöglicht. Andres Veiel und Jutta Dobberstein entscheiden sich für den Life-Stream. Die Bühne gibt ihr Bestes, um sinnliche Erfahrungen zu ermöglichen.  Ein eingegrenzter Raum ohne Ausgang umreist den engen Spielraum der Protagonisten. Lichtbühnen und Lichtkerker schaffen mehr virtuelle als echte Raumaufteilungen, die Schauspieler sind nicht nur vorne und hinten, sondern ebenso oben und unten. Sie werden aufgehängt, fliegen und schaukeln in diesem Raum, Bewegungsfreiheit nur noch simulierend. Doch dieser begrenzte Raum ist unendlich. Er ist virtuell offen für die Followers der „Let them eat money“ Gruppe. Gemeinsam mit ihren anfangs über 9 Mio. Followern, davon über 5 Mio life dabei, erleben wir die Verhöre der Gefangenen der Terrorgruppe – die ehemalige EU Kommissarin (mit großer Kraft verkörpert von Susanne-Marie Wrage) und der ehemalige Gewerkschaftsführer (glaubwürdig durch Paul Grill dargestellt), der beide sowohl bei den Entscheidungen der EU für die Sonderwirtschaftsgebiete der off-shore Inseln, als auch für die Einführung des Grundeinkommens eine wesentliche Rolle spielten. Am Ende sollen die Follower über Leben und Tod der Beiden entscheiden. Es wird anderss kommen und wie Kathleen Morgeneyer als Yldune das spielt, ist sehr sehenswert.

Ohne Öffentlichkeit werden die Anhörungen des Untersuchungsausschusses durchgeführt – von einer Maschine. Hier erleben wir den ehemaligen EZB Präsidenten, wunderbar verkörpert von Jörg Posse und seinen Kumpel und Gegenspieler Stefan Tarp (Frank Seppeler), dem Gründer und Vorstandsvorsitzenden der Nova AG – Betreiberin der off-shore Inseln. Auch hier ein Blick der verstört – die Verantwortlichen hatten alle aus ihrer Perspektive gute Gründe so zu handeln, wie sie gehandelt haben. Tarp wollte Flüchtlinge retten und stellte dafür seine Inseln zur Verfügung und der EZB Präsident musste den EU Raum retten – war alles alternativlos? Können wir der Katastrophe nicht entgehen?

Auf der Suche nach der Form

Eine komplexe Geschichte, die im Life-Stream funktionieren könnte – doch das Theater fordert seinen Tribut. Es funktioniert nach seinen Gesetzen, verlangt Tragik und Leben auf der Bühne, nicht in Berichten und Erzählungen. Youtube-Chanels kommen leicht und unprätentiös daher. Doch stellt man das auf der Theaterbühne dar, so wird es ausdrucksstark und bedeutungsschwanger. Wo aber gerade das nicht mehr da ist, wo das lakonische und orientierungslose das Charakteristische ist, kommt das klassische Theater an seine Grenzen. Sicher, man könnte die Geschichte auch anders erzählen – sich den Bedingungen des Theaters pflichtschuldig unterwerfen. Man hätte auch den Prozess der Entstehung in das Stück einbeziehen können, statt das Kunstwerk von seinem Entstehungsprozess abzukoppeln.

Oder man respektiert, dass Andres Veiel und Jutta Doberstein sich für diesen Weg entschieden haben. Sie schaffen damit etwas, was vor ihnen so noch niemand gemacht hat. Sie bringen einen Stoff auf die Bühne, der uns zwingt sich mit den Themen Wirtschaft und Politik auch auf einem sehr abstrakten Level auseinander zu setzen. Sie fordern Aufmerksamkeit, nicht nur 144 Zeichen lang, sondern für 2 Stunden. In einer Zeit, in der die Ökonomie sich in all unsere Lebensbereiche hineindrückt und zwängt, ist das politische Theater eben ein Theater, das sich mit der Ökonomie auseinandersetzen muss. Der depressive Charakter dieser Tatsache, das wir uns in unserer Welt immer mehr um die Poesie bringen, das wir das Primat des Politischen an die Ökonomie fast schon verloren haben, das wir kaum noch darum wissen, das wir die Errungenschaften des Schutzes unserer Freiheit auch verteidigen müssen gegen die Feinde der offenen Gesellschaft – all dies führt dazu, dass Andres Veiel Stück einen intellektuell aufwühlt– es regt an und es regt eben auch auf. Der Dokumentarfilmer Andres Veiel öffnet damit die Tür für andere Theaterleute, sich diesem Thema ebenso radikal zu stellen. Das Theater kann sich aufgefordert fühlen, hier mit seinen Ausdrucksformen zu experimentieren – denn es muss doch möglich sein, auch hochverdichtete Stoffe einer komplexen und dynamischen Welt mit vielen Facetten und Ebenen sinnlich darzustellen. Auch diese Zukunft ist noch nicht geschrieben und sie ist, wie jede Zukunft, nicht alternativlos.

Thomas R. Henschel